14. März 2022

Los ríos profundos / Die tiefen Flüsse

Von Ernst R. Hartmann, Themen Literatur | Newsletter - 31. März 2022

Buchbesprechung

Los ríos profundos / Die tiefen Flüsse

Es gab einen Moment, von dem an ich José María Arguedas‘ Roman nicht mehr nur als die Geschichte eines jungen Indios aus Chaupi las. Ernesto, der mit seinem Vater, einem Anwalt, lange Jahre über Land reist, bis für ihn die gemeinsame Reise in einem katholischen Internat, einem Colegio in Abancay endet.

| Mein Vater fand in seinem ganzen Leben keinen Ort, an dem er gern geblieben wäre; er war ein Anwalt der Provinz, unruhig und unstet. Auf unseren Wanderungen lernte ich mehr als zweihundert Städte und Dörfer kennen. |

Ernesto schließt sich einem Aufstand der Kneipenwirtinnen und Serviermädchen von Abancay an, die der staatlichen Salzverwaltung das Salz entreißen und es an die Armen von Patibamba verteilen. Als ein tödliches Fieber die Bewohner der Stadt heimsucht, verlässt er als letzter Schüler das Colegio.

Doch bald schon erschloss sich mir, hinter der Geschichte Ernestos, eine andere Ebene des Romans.

| yawar mayu Fluß aus Blut, yawar unu blutiges Wasser, puk-tik‘ yawar k’ocha See aus siedendem Blut, yawar wek’e blutige Tränen |

Das war der Moment, ab dem ich mich ganz der Poesie Arguedas‘ hingab. Einer Sprache, die sich der Wirklichkeit entzieht und weit über sie hinausgeht. Arguedas* lässt eine Natur in allen Farben glühen. Bäume, Vögel und Menschen singen, tanzen den huayno. Die Mauern des Inkapalastes in Cuzco kochen, ihre Fugen brennen. Ich höre die Schreie der Papageien, die Hymne, die aus den Fluten des Pachachaca steigt …

Es scheint, als ob nur die belebte und unbelebte Natur mit ihrer Musik, ihren Liedern, ihren Tänzen die Menschen und eine zerrissene Gesellschaft zu heilen vermag.

| Die Mädchen kannten nur die huaynos des Apurímac und des Pachachaca … Wenn sie mit ihren dünnen Stimmen sangen, tauchte eine andere Landschaft auf: das Raunen der großen Blätter, der blitzende Glanz des schäumenden Wassers, das zwischen Büschen und weißem Kaktusblüten zu Tale springt; der schwere, ruhige Regen, der auf Zuckerrohr tropft; die Schluchten, in denen die Blüten des pisonay glühen, voll roter Ameisen und gefräßiger Insekten … |

| Lausche dem smaragdgrünen Schmetterling, der Dir folgt; er spricht zu Dir von mir, sei nicht grausam, hör ihm zu. Seine kleinen Flügel sind müde, er kann nicht mehr fliegen, bleib stehen. Der weiße Stein, auf dem die Reisenden ruhen, liegt ganz nahe; warte dort und hör ihm zu, hör sein Weinen; er ist der Bote meines jungen Herzens … |

Selbst in der Schilderung der sozialen Ungerechtigkeit und der Willkür, der die leibeigenen colonos auf den Haciendas ausgesetzt sind, selbst in der Schilderung von Gewalt verliert Arguedas‘ Sprache nichts von ihrer Magie.

| Ein Mann, der weint, weil man ihn seit Jahren ins Gesicht geschlagen hat, kann rasender werden als ein Stier, der … den harten Schnabel des Kondors in seinem Nacken spürt. |

| Sogar die Steine bekommen Ritzen und Spalten, wenn sie das Geheul der brennenden Verdammten durchbohrt. Und wenn sie in diesem Augenblick den Klang der quena hören, dann beginnen sie, in Flammen gehüllt, traurig zu tanzen. |

| Stimmte es, daß ein einziger Kanonenschuß ein Loch in einen Berg schlagen, einer ganzen Viehherde die Eingeweide herausreißen und eine Million Menschen köpfen konnte? Und daß dann das Blut dieser Million Menschen davonfloß, aufspritzte und Schaumkronen bildete wie ein Fluß? |

Und eine zweite Erfahrung durfte ich machen. Dieser Roman, der in den Anden, in der Region Apurímac im Süden Perus siedelt, der in der indigenen Tradition Perus lebt, eine vordergründig nationale Literatur, verbindet sich ungezwungen mit der Literatur aller Kulturen. Im Aufstand der chicheras, der Wirtinnen von Abancay, finde ich Anklänge an B. Travens Roman „Die Rebellion der Gehenkten“. Und der zumbayllu, der aus einer Kokosnuss geformte magische Kreisel, dessen Gesang die Jungen im Colegio lauschen und im Tanz den Wasserfall hinauf in die Sonne folgen, ist ein Bruder Odradeks, dem einer Zwirnspule ähnlichen Wesen aus Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ …

Kann sich dieser Reichtum auch mir, dem Leser, der die Sprache Arguedas‘, das peruanische Spanisch und das Que¬chua, nicht spricht, erschließen? Ja, dank der Übertragung von Suzanne Heinzt.

Schnitt. - Gegen Ende des Films „Paterson“ von Jim Jarmusch, einer Hommage an den Lyriker William Carlos Williams, trifft ein japanischer Tourist auf Paterson, Busfahrer im gleichnamigen Ort. Sie kommen, beide schreiben Gedichte, ins Gespräch. Der Tourist zeigt Paterson seine Notizbücher und merkt an, dass er seine Gedichte nicht übersetzen lassen wird. „My poetry only in Japanese. No translation. Poetry in translation only like taking a shower with raincoat on.“ / „Es gibt meine Gedichte nur auf Japanisch. Keine Übersetzung. Übersetzte Gedichte sind so ähnlich wie unter der Dusche stehen mit einem Regenmantel an.“

Trotz des Regenmantels: Lest Los ríos profundos / Die tiefen Flüsse! Im Original oder in der Übersetzung von Suzanne Heinzt. Lest!

* José María Arguedas war ein bekannter peruanischer Schriftsteller und Anthropologe. Sein Werk als Romanautor, Übersetzer und Verfechter der Quechua-Literatur machte ihn zu einem der wichtigsten peruanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er wurde in Andahuaylas (Region Apurimac), einer armen Andenregion, geboren. Dieser Kontext ermöglichte ihm einen direkten Kontakt mit der indigenen Realität, die er später in seinen Werken beschreiben sollte.

 

Über den Autor

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann, geboren 1950 am linken Niederrhein. Versteht „links“ nicht nur geographisch. Nach Abitur, kaufmännischer Lehre und Ersatzdienst in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt Studium der Mathematik und der Wirtschaftswissenschaften in Aachen und Freiburg i. Br. Arbeitete lange Jahre als Consultant in Einrichtungen des Gesundheitswesens und als Dozent vorwiegend in der Weiterbildung von Pflegekräften.

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