20. Mai 2021

Das Wirtschaftsmodell Perus

Von Gerardo Basurco, Nora Basurco - Freie Mitarbeiterin, Themen Volkswirtschaft | Newsletter - 2021 - 21. Mai

Quelle: https://stakeholders.com.pe/

Bei den Diskussionen im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftsstichwahl in Peru geht es sehr oft um die Frage des angestrebten Modells - gemeint ist das Wirtschaftsmodell.

Keiko Fujimori geht es um die Rettung des von ihrem Vater Alberto Fujimori eingeführten neoliberalen Modells, das von den auf ihn folgenden Präsidenten weiterverfolgt wurde. In Artikel 58 der Verfassung von 1993 heißt es aber "… die Privatinitiative wird in einer sozialen Marktwirtschaft ausgeübt", in Peru oder besser bei den Politikern Perus versteht man hierunter vielmehr eine freie Marktwirtschaft oder "Liberalismus".

Pedro Castillo hingegen fordert einen Paradigmenwechsel, u.a. soll die Rolle des Staates verstärkt und das Auslandskapital, vor allem im Bereich der Ressourcenausbeutung (Bergbau, Fischerei, Holzwirtschaft), reglementiert werden.

Ist eine grundsätzliche Infragestellung des Wirtschaftsmodells notwendig?

Was ist soziale Marktwirtschaft (SMW)?

Die soziale Marktwirtschaft baut auf Elementen der freien Marktwirtschaft auf, die eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit den entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit und freie Preisbildung anstrebt. Die soziale Marktwirtschaft wurde in Europa entwickelt und galt vor allem in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlage der implementierten Wirtschaftspolitik. Danach haben sich mehrere Länder daran orientiert und heute gilt sie als Modell der Europäischen Union.

Der Anspruch der sozialen Marktwirtschaft ist die Vorteile einer freien Marktwirtschaft wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder Wohlstand zu verwirklichen, gleichzeitig aber deren Nachteile wie zerstörerischer Wettbewerb, Ballung wirtschaftlicher Macht (Monopolbildung, Preisabsprachen) oder unsoziale Auswirkungen von Marktprozessen (z. B. Lohngefälle, Arbeitslosigkeit, mangelnde soziale Absicherung) zu vermeiden. Die theoretischen Grundlagen lieferten u.a. Eucken, von Hayek, Müller-Armack (Freiburger Schule) – die praktische Umsetzung dieses Konzepts erfolgte als erstes in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durch Ludwig Erhard (Wirtschaftsminister von 1949-1963, Bundeskanzler von 1963-1966). In den Folgejahren verfolgten weitere Länder dieses Wirtschaftsmodell und die Europäische Union strebt laut Lissaboner Vertrag eine "wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" mit Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt an. Müller-Armack definierte die soziale Marktwirtschaft als das Wirtschaftsmodell, das "das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs verbindet". In anderen Worten die soziale Marktwirtschaft versucht das "Marktversagen" zu korrigieren.

Im Laufe der Zeit sind in der deutschen und europäischen SMW weitere Gestaltungsmerkmale hinzugekommen wie eine von staatlichen Weisungen unabhängige Zentralbank; das Recht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern über ihre jeweiligen Verbände die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung ohne staatlichen Eingriff zu regeln (Tarifautonomie); eine aktive Wirtschafts-, Konjunktur- und Steuerpolitik des Staates sowie ein Netz von Sozialleistungen, das z. B. Alte, Kranke, Einkommensschwache oder Arbeitslose vor wirtschaftlicher Not schützt, wenn eine Eigenversorgung nicht möglich ist.

Perus Wirtschaftsmodell

Alberto Fujimori leitete 1990 eine konsequente neoliberale Wirtschaftspolitik in Peru ein, die auf Privatisierung, Haushaltsdisziplin, Geldwertstabilität, Exportförderung, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum abzielte. Diese wurde von den nachfolgenden Regierungen weiterverfolgt. In der 1993 verabschiedeten Verfassung wurde die soziale Marktwirtschaft als Pfeiler des Wirtschaftssystems festgeschrieben. Bereits im August 1990 leitete Fujimori diesen Prozess mit dem "Fujischock" ein, welcher zunächst von hohen sozialen Kosten wie wachsender Armut, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Verschlechterung der Bildungs- und Gesundheitslage sowie Privatisierung der Alterssicherung begleitet wurde. Ein liberales Wirtschaftsmodell wurde umgesetzt, das zwar Wachstum und Stabilität brachte, aber die dazu notwendige soziale Politik wurde fast gänzlich vernachlässigt. Darüber hinaus schritt der Staat nicht gegen die Bildung von Monopolstrukturen, z.B. in der Pharmaindustrie ein, die die markwirtschaftliche Preisbildung aushebelte und zu einseitigen und willkürlichen Preiserhöhungen führte. In Peru ist die in der Verfassung angestrebte SMW noch nicht in der Praxis umgesetzt.

Im peruanischen Wirtschaftsmodell stellt man fest, dass der Staat seiner regulativen Rolle beim „Marktversagen“ (Monopolbildung, Preisabsprachen u.v.m.) nicht gerecht wird und im Hinblick auf die Sozialpolitik erhebliche Mängel bestehen. Nicht zuletzt die Pandemie hat die schlechte Infrastruktur im Gesundheitswesen (Krankenhausbetten, Intensivstationen, Sauerstoff und Medikamente) sowie im Erziehungswesen (Internetversorgung, Zustand der Schulen und Erziehungsqualität) aufgedeckt. Und als der Staat aktiv wurde, kam seine mangelnde Effizienz auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene klar zum Ausdruck. Ferner haben sich seine Schwerfälligkeit bei der Auszahlung der Gutscheine, Verteilung von Medikamenten und Lebensmitteln während der Pandemie sowie das mangelhafte Ressourcenmanagement der regionalen und lokalen Strukturen (oft sind mehr als die Hälfte der vorhandenen Mittel nicht ausgegeben worden) negativ auf die Bekämpfung der Pandemie ausgewirkt. Diese negativen Auswirkungen waren im „informellen Sektor“, deren Ausmaß 70% der Wirtschaft betrifft (siehe: Informalität als prägendes Merkmal der Armut, Die Rolle des informellen Sektors bei der Pandemieentwicklung), am stärksten.

Zur Rolle des Staates in der Wirtschaft

Die Rolle des Staates im wirtschaftlichen Geschehen ist in der Geschichte durchaus umstritten, sie reicht von einer vollständigen Planung des Wirtschaftsprozesses (z.B. die Zentralverwaltungswirtschaft im real existierenden Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik DDR) bis hin zur drastischen Reduktion des Staates und Öffnung des Marktes (Margaret Thatcher in Großbritannien). In der SMW wird dem Staat - wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben - eine korrektive und eine soziale Rolle zugeschrieben. In der Realität hat der Staat eine noch bedeutendere Rolle in den europäischen, aber auch in anderen Ländern bekommen.

Wenn wir uns die Staatsquote (Anteil der Staatsausgaben am BIP) ausgewählter Industrie- und Schwellenländer ansehen, können wir feststellen, dass diese fast bei allen mehr als ein Drittel, bei Frankreich sogar mehr als die Hälfte betragen (Siehe: Tabelle).

Staatsquote

Wenn wir uns die größten Unternehmen der Welt anschauen, stellen wir fest, dass darunter mehr als die Hälfte staatliche Unternehmen sind, wie 4 chinesische Banken (Positionen 1, 2, 5 und 10), eine Versicherung (7) sowie die staatliche Erdölfördergesellschaft aus Saudi-Arabien (6) (Siehe: Tabelle).

Grössten U der Welt

Der Staat ist auch mittelbar oder unmittelbar an Unternehmen beteiligt, so ist der deutsche Staat 2020 an 500 Unternehmen beteiligt, darunter die Telekom AG, die Deutsche Post AG, die Commerzbank AG, Verkehrsunternehmen und Flughafengesellschaften sowie Reiseveranstalter (TUI) und Logistikunternehmen. In Corona-Zeiten hat sich die Beteiligung des Bundes an diversen Unternehmen sogar verstärkt, wie beispielsweise die Investition von einer Milliarde Euros in den Tübinger Corona-Impfstoffhersteller Curevac zeigt.

Ansonsten ist es beispielsweise bekannt, dass die britische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt BBC staatlich ist, genauso wie die norwegische Erdölgesellschaft Equinor und die Katarische Investitionsgesellschaft QIA staatlich sind. Letztere ist sogar mit 4,6% an Royal Dutch Shell, mit 9% an Bergbauriesen Glencore und mit 21% an Siemens und an Volkswagen beteiligt.

In der heutigen Welt können wir kaum von reiner Markt- oder Staatswirtschaft sprechen, die meisten Länder verfolgen eine "gemischte" Wirtschaftsform, die also teils privat und teils staatlich ist.

Fazit

In der peruanischen Verfassung wird von SMW gesprochen, aber wie wir in den vorangegangenen Abschnitten feststellen konnten, entspricht das in Peru umgesetzte Wirtschaftsmodell keineswegs den Ansprüchen einer SMW. Es fehlt an korrektiven Eingriffen des Staates, an Managementkapazitäten der öffentlichen Verwaltung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene und an einer Sozialpolitik, dich zum Ziel setzt die oben genannten Defizite zu beseitigen. Damit außerdem die gesamte Bevölkerung davon profitieren kann, muss der "informelle Sektor" in den Städten miteinbezogen und die Integration der ländlichen Gebiete in die moderne Wirtschaft vorangetrieben werden.

Die Rolle des Staates in Peru sollte in Anbetracht der enormen anstehenden Aufgaben und im Lichte der Erfahrungen anderer Länder überdacht werden.

Über den Autor

Gerardo Basurco

Gerardo Basurco

Er betätigt sich als Berater und Projektleiter in der Privatwirtschaft und ist Dozent in Entwicklungspolitik und Landeskunde Lateinamerikas für die AIZ/GIZ. Zudem verfügt er über langjährige Erfahrung in der Kooperation zwischen Deutschland und Lateinamerika.
Bei Peru-Vision ist er zuständig für den Bereich Wirtschaft und Politik sowie Consulting.

Nora Basurco - Freie Mitarbeiterin

Nora Basurco absolvierte nach dem Abitur ein Praktikum als Assistant Teacher von Deutsch und Englisch an der deutschen Schule Max Uhle in Arequipa. Nach dem Studium von European Studies und Informatik ist Nora Basurco als freie Mitarbeiterin für Peru-Vision tätig.

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