30. Mayo 2022

La distancia que nos separa

Von Ernst R. Hartmann, Themen Cultura, sociedad y educación | Literatura | Boletín - 2022 - 04 Abril

Roman von Renato Cisneros

La distancia que nos separa

Renato Cisneros ist der Sohn „eines der wichtigsten Generäle der peruanischen Militärdiktatur, des Generalobersts Luis Federico Cisneros, genannt El Gaucho“, der „seinen Freunden Jorge Videla und Augusto Pinochet in nichts nachstand.“ Das teilt der Klappentext des 2019 auf Deutsch erschienenen Romans „La distancia que nos separa / Die Entfernung, die uns trennt“ mit. Von ihm, El Gaucho, wird der Ausspruch kolportiert: „Si para matar a dos o tres terroristas hay que matar a veinte campesinos, está bien.“

Obwohl mir diese Informationen vorlagen und ich anfangs mehr ahnte als wusste, was diesem Mann, mit historischem Abstand, anzulasten ist, konnte ich den Roman lesen, ohne irgendeinen moralischen Standpunkt einzunehmen. Ich konnte ihn lesen ohne vorgefasste Absicht, gewissermaßen mit der Empfindung „interesselosen Wohlgefallens“ (Immanuel Kant). Und ich konnte ihn lesen als epischen Text und somit der dem Roman in Klammern vorangestellten Anmerkung folgen: „(Dieses Buch ist eine fiktive Biografie. Es ist nicht die Absicht des Autors, die hier erzählten Begebenheiten oder die im Folgenden beschriebenen Personen außerhalb der Literatur zu beurteilen.)“

In der Ausgabe des Verlags Editorial Planeta Perú, Lima, von 2015: [Este libro es una novela de autoficción. No es propósito del autor que los hechos aquí narrados, así como los personajes descritos a continuación, sean juzgados fuera de la literatura.]

Renato Cisneros erzählt in „La distancia que nos separa / Die Entfernung, die uns trennt“ von einer Vater-Sohn-Beziehung, der Beziehung zu seinem Vater Luis Federico Cisneros (1926 – 1995). Der trat ein familiäres Erbe an, für das er „weder Worte noch Urteil kannte und dem er nie die Stirn geboten hat.“ Ein Erbe, das im 19. Jahrhundert Gregorio Cartagena, Bischof von Huánuco, gründete, der mit Renato Cisneros Ururgroßmutter Nicolasa Cisneros sieben illegitime Söhne hatte. „Mein Urgroßvater war ein Bastard-Sohn. Mein Großvater ein Verbannter. Mein Vater ein Ausländer. Drei illegitime und entwurzelte Männer.“

Einige Jahre nach dem Tod seines Vaters recherchiert Renato Cisneros im Archiv der peruanischen Streitkräfte in San Borja, sucht noch lebende Bekannte seines Vaters, Angehörige des peruanischen Militärs sowie Verwandte auf, so seine Geschwister, die Kinder seines Vaters aus dessen erster Ehe. Gemeinsam beginnen sie die Vergangenheit „zu rekapitulieren, als würde(n) sie nach Jahrzehnten in ein verlassenes Haus zurückkehren.“ Briefe, Fotografien, amtliche Dokumente, Besuche in Buenos Aires und Paris wecken schmerzliche Erinnerungen. Vieles im Leben der Familie Cisneros scheint erhellt zu werden. Dennoch muss Renato Cisneros eingestehen: Ich „habe das dumpfe … Gefühl, dass ich meinen Vater nicht wirklich gekannt habe, dass mir seine dunkelsten und furchterregendsten Seiten in den Jahren, die wir gemeinsam verbrachten, völlig unzugänglich geblieben sind …“

 

Gral. Luis Cisneros Vizquerra - El Gaucho, Quelle: La MulaIm längsten, fast ein Drittel des Buches umfassenden Kapitel schildert Renato Cisneros die Zeit von Mitte der 70er Jahre bis zum Tod seines Vaters im Jahr 1995. Die Zeit des militärischen und auch politischen Wirkens El Gauchos, seinen Aufstieg in der Armee, in der er immer Außenseiter war, seine Amtszeit als Innen- und Kriegsminister, seine vergeblichen Versuche, nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst in der Politik Fuß zu fassen. Es sind die Jahre des Bürgerkrieges, die Jahre des Sendero Luminoso und des Movimiento Revolucionario Túpac Amaru. Jahre, in denen unzählige Menschen entführt, gefoltert, ermordet werden. Jahre, in denen die Guerilla und das peruanische Militär Massaker an der indigenen Zivilbevölkerung verüben. Jahre, in denen Gefängnisrevolten blutig niedergeschlagen werden. Jahre, in denen El Gaucho durch menschenverachtende Interviews und Verlautbarungen in Zeitungen und bei Rundfunk- und Fernsehsendern von sich reden macht.

Wusste El Gaucho, der nie an einem bewaffneten Konflikt teilgenommen hatte, von den Verbrechen, die das Militär verübte? Befahl er selbst Entführungen und Morde an oppositionellen Studenten und Intellektuellen? Tötete er eigenhändig einen Menschen? War er zum Mörder geworden? „Ich würde es nicht in Abrede stellen“, antwortet der ehemalige Geheimdienstchef Belisario Schwartz. „Dann frage ich mich, wie vielen Menschen dieser Mann, der unter anderem mein Vater war, Schaden zugefügt hat. Dieser Mann, den ich, seit er tot ist, besser kennengelernt habe als zu seinen Lebzeiten. Dieser Mann, den ich in mir trage und der doch so unerreichbar fern geblieben ist.“

Titelbild des BuchsDas Buch hat seine starken Momente, wenn Renato Cisneros die Ebene der Fakten und imaginierten Gespräche verlässt, um sich auf seine Unwissenheit, Zweifel, Verdächtigungen, Ängste, sein Dasein als „Schiffbrüchiger“ einzulassen und Fragen zu stellen, die unbeantwortet bleiben werden: „Sind seine Grobheit und Verschlossenheit ihm eigen gewesen, oder wurden sie ihm vor der Geburt eingepflanzt? Gehörte die Melancholie wirklich zu ihm, oder war sie die Spur von etwas Höherem und Älterem als er? Welchem uralten Untergrund entstammte sein Mut? Woher rührte seine Arroganz?“

Wie mir erst nach etlichen Seiten bewusst wurde, las ich „Die Entfernung, die uns trennt“ als Sohn meines Vaters. Eines Arbeiters und urwüchsigen Anarchisten. Wir haben ein Leben geführt, das Millionen Menschen in Mitteleuropa führten und führen. Ein bescheidenes, wenn auch auskömmliches Leben. Ein Leben, das sich in keiner Weise mit dem von Renato Cisneros und dem seines Vaters vergleichen lässt. Und doch erzählt Renato Cisneros auch von meinem Vater und mir. Von Nähe und Abwesenheit. Von Mut und Verletzlichkeit. Von Rissen in unserem Leben. Von mir, der ich meinem Vater ähnlich geworden bin.

„Dieses Buch handelt von meinem Vater … Dies ist ein Buch über ihn oder jemanden, der ihm sehr ähnlich ist. Ein Roman, keine Biografie. Nicht historisch. Nicht dokumentarisch. Ein Roman, der sich des Umstandes bewusst ist, dass die Wirklichkeit ein einziges Mal geschieht und dass jede Wiedergabe dieser Wirklichkeit zur Fälschung, zur Verzerrung, zum Trugbild verdammt ist.“

Eines noch interessiert mich: Lesen Töchter „La distancia que nos separa / Die Entfernung, die uns trennt“ und … wie lesen sie?

Renato Cisneros: Die Entfernung, die uns trennt. Roman. Aus dem peruanischen Spanisch ins Deutsche übertragen von Steven Uhly. Zürich 2019. Secession Verlag für Literatur. 383 Seiten

Über den Autor

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann, geboren 1950 am linken Niederrhein. Versteht „links“ nicht nur geographisch. Nach Abitur, kaufmännischer Lehre und Ersatzdienst in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt Studium der Mathematik und der Wirtschaftswissenschaften in Aachen und Freiburg i. Br. Arbeitete lange Jahre als Consultant in Einrichtungen des Gesundheitswesens und als Dozent vorwiegend in der Weiterbildung von Pflegekräften.

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