03. April 2023

Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten - José María Arguedas

Von Ernst R. Hartmann, Themen Gesellschaft und Kultur | Literatur | Newsletter - 04. Mai 2023

Eine Hommage oder: Erfahrungen beim Lesen

Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten - José María Arguedas

ERNESTO: Eine Besprechung? Dieses Buches? Eines Buches, das die Kritik als „den großen peruanischen Roman des 20. Jahrhunderts“ rühmt? Auf keinen Fall! Es wäre allzu vermessen! Was also tun? Ich habe mich für einen Versuch – un experimento – entschieden. Für ein selektives, assoziatives Lesen. Ein Lesen, das ein fernes Raunen und erinnerte Träume kennt. Reinheitsfanatiker*innen, buchstabengetreue Puristen*innen mögen es kastriertes Lesen nennen. Ich verstehe es so: Die Tagebuchaufzeichnungen überschlagen. Das Vorwort selbstverständlich erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Und die Dialoge des Fuchses von oben und die des Fuchses von unten? Wir werden sehen.

ALTER EGO: Verdammich. Was issn das fürne verfiggte Geschichte. Inner duitschen Überseezung von Matthias Strobel. Hurenbock. Hammse dem eine solch Sprach midde Muddermilch einjeflösst? Machs uns janich zu leicht, Matjö, wir könnten sonst vastehn. En los huevos del cáncer.

ERNESTO: Und doch verstehen wir. Wenn Don Ángel Rincón sagt: „In Peru gibt es kein Entrinnen, und die Welt wird von einer Handvoll Leuten regiert.“ Wenn der irre gewordene, predigend durch die Viertel von Chimbote ziehende Moncada ausruft: „In Peru ist der Tod ein Ausländer.“ Wenn wir das Echo ahnen, das ihn über den Pazifik erreicht: der Tod ist ein Meister aus Deutschland, der Tod aus Deutschland … Wenn Don Esteban gräulichen Schleim aus seiner Lunge hustet, auf dem der schwärzeste Kohlenstaub schwimmt, den er trocknet, sammelt, Unze für Unze.

titel E ang titel D
Ernst R. Hartmann: siete huevos blancos | Linolschnitt auf Bütten | handgeschöpft |100 g/m2 | Aquarell- und Acrylfarben | Schreibmaschine | 21 x 30 cm | 03/2023
Ernst R. Hartmann: Kartographische Imagination Chimbote | Aquarellfarben und Kugelschreiber | auf Aquarellpapier | rau | naturweiß | 300 g/m2 | 17 x 24 cm | 03/2023

ALTER EGO: Hast du dich nun mit der Geschichte Chimbotes und seiner  Menschen vertraut gemacht?

ERNESTO: … vertraut gemacht … ein Wort, das der Fuchs von oben benutzt, wie der Fuchs, dem der kleine Prinz bei Saint-Exupéry begegnet. Vertraut gemacht … ja, mit dem Gestank von Exkrementen und Schweiß, dem Geruch von Früchten, Heilkräutern, geröstetem Schweinebauch auf den Märkten in La Línea und Modelo;  mit den Hurenhäusern; dem Roten Salon; mit den leeren Nischengräbern auf dem Friedhof der Gringos und der Mulde auf der anderen Seite der Düne von San  Pedro, der Mulde, in der die Armen ihre Toten verscharren werden; mit den stinkenden, mückenverseuchten Sümpfen, in die die Lebenden ihre barracas  bauen. Ich bin vertraut mit der Produktion von Fischmehl und Fischöl, nachdem Don Ángel Rincón Jarramillo, Werkschef der Fischmehlfabrik „Nautilus Fishing“,  mich und Diego, die Schwuchtel der Firmenzentrale, durch die Anlagen geführt hat. Ich sah im Dunkeln den rötlichen Rauch des Stahlwerks, eine bewegliche, aber feste Achse …

ALTER EGO: Vergiss das Meer nicht.

ERNESTO: Das Meer, die Möse des größten Fischereihafens der Welt, la zorra, el coño grande. Es spuckt die silbrigen Leiber von Sardellen und Sardinen aus, macht  Braschi reich, den größten Industriekapitän, den der Pazifik hervorbrachte.

ALTER EGO: Braschi. Der ist nur ein Phantom.

ERNESTO: Braschi ist das System

ALTER EGO: Erinnerst du denn der Frauen und Männer, die schuften, kämpfen, die leiden und hoffen, die saufen und huren, die krepieren?

ERNESTO: Ich habe sie in meine Seele gegossen, die Bootskapitäne und Fischer, die Nutten (Narizona, Flaca, Gerania, Orfa, die schwangere Paula Melchora,  Florinda und die anderen), Don Esteban, der Rotz und Kohle spuckt, den  verrückten Moncada (beide erwähnte ich schon), die Gewerkschafter, Pfaffen und 
Kommunisten. Die serranos, cholos, criollos, die mudos, die zambos und  tartamudos

ALTER EGO: Doch wo ist Trost? Wo ist Hoffnung? Für die Menschen in Peru, für die Black People in den USA, für die Refugees, die nach Europa drängen …

ERNESTO: Vielleicht in der Musik des ayarachi, des Bruders des Windes. Vielleicht in dem, was der Aymara Hilario, Fischer, ausspricht: „An meiner Seite der Inka ist, wenn wir kommen auf hohe See.
Atahualpa ist nicht tot … Inka an mein Seite, mehr noch, wenn ich tief Gewimmel von Sardellen spür.
Dann ist da, der Inka, an mein Seite, ruhig, groß, dunkel Gistalt. Extra nach Cajamarca bin ich gefahren, um zu schauen, wo sie, heißt es, ihn getötet haben. In Baños del Inca, heißt es, und da hab ich gebadet. Im ganzen Tal Cajamarca ist Körper-Seele von Inka, in Schlocht Berg El Dorado, auch hin zum Meer,
wettert er. Das Kapetal wird sich ergeben, irgendwann …“

Buch TitelJosé María Arguedas: Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten. Roman. Aus dem peruanischen Spanisch von Matthias Strobel. Mit einem Vorwort von Marco Thomas Bosshard. Berlin 2019. Verlag Klaus Wagenbach. 316 Seiten

 

 

 

 

 

 

Ich bin kein Akkulturierter … (José María Arguedas)
„El zorro de arriba y el zorro de abajo“, José María Arguedas‘ (1911 – 1969) letzter Roman, blieb unvollendet. Es ist der Roman des Zusammenpralls der andinen mit der europäischen, postkolonialen Kultur. Indigene Menschen der Anden, serranos, drängen in die wirtschaftlichen Zentren, die Industrien, die Handelsmetropolen an der Küste. Sie fliehen vor der Armut und dem Elend. Die Männer finden harte, schlecht bezahlte Arbeit in der Fischerei, der Sardellenfabrik, im Stahlwerk von Chimbote. Viele der Frauen landen im Bordell. Arguedas erzählt die Geschichte dieser Menschen, ihres vielleicht vergeblichen Kampfes um ihre kulturelle Identität.
„El zorro de arriba y el zorro de abajo“ ist eine Komposition voller mythologischer Bezüge. Eine Komposition aus Erzählungen, den eingestreuten Dialogen zwischen dem Fuchs von oben und dem Fuchs von unten sowie Tagebuchaufzeichnungen Arguedas‘. Vom 28. November 1969 datiert die letzte Tagebucheintragung. Wenige Tage später begeht José María Arguedas Selbstmord.
Und „weil wir die Wörter nicht mehr genießen, sie nicht mehr erleiden“, können wir „El zorro de arriba y el zorro de abajo“ als Mahnung verstehen. Als Mahnung, die José María Arguedas mit den Worten des Hohelieds der Liebe (1. Korinther 13) einleitet: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz.“

Über den Autor

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann, geboren 1950 am linken Niederrhein. Versteht „links“ nicht nur geographisch. Nach Abitur, kaufmännischer Lehre und Ersatzdienst in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt Studium der Mathematik und der Wirtschaftswissenschaften in Aachen und Freiburg i. Br. Arbeitete lange Jahre als Consultant in Einrichtungen des Gesundheitswesens und als Dozent vorwiegend in der Weiterbildung von Pflegekräften.

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