01. März 2023

Marinera. Ein letzter Tanz

Von Ernst R. Hartmann, Themen Kultur, Gesellschaft und Bildung | Literatur | Newsletter - 16. März 2023

Ein Roman von Melacio Castro Mendoza

Marinera. Ein letzter Tanz

Marinera ist die Geschichte des Lorenzo Claro Portilla. Geboren und aufgewachsen in Amargura (deutsch: Verbitterung), einem fiktiven Dorf im Norden Perus. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der einem Kondorküken gleicht. Ein Küken, das sein biologischer Vater zu ertränken versucht. Der von Pflegeeltern – Honorato Hernández und der blinden Hilda Huamán, genannt Mamacha – aufgezogen wird. Der als Kind oft einnässt und einkotet, Jahre verbringt, „ohne auch nur ein Wort zu verlieren“ und immer wieder unkontrolliert hin und her zu laufen beginnt. Er kommt erst zur Ruhe, als Mamacha ihn dreimal im heilenden Wasser der Lagune von Amargura badet und er Lesen und Schreiben lernt.

Marinera ist die Geschichte des Lorenzo Claro Portilla, der Jahre später als Soldat auf einem Kriegsschiff der peruanischen Marine von Callao mit Ziel Hamburg ausläuft. Der Auftrag: Inspektion und Kauf eines in Deutschland hergestellten U-Bootes. In Hamburg lernt er Sol Dorado del Valle kennen, seine Liebe. Er entfernt sich von seiner Truppe. In Hamburg begegnet er Führern der peruanischen Opposition. Wird in hitzige, akademische Streitgespräche über die „richtige“ Strategie und Taktik des revolutionären Kampfes verwickelt. Zur Truppe zurückgekehrt, wird er als Terrorist verdächtigt, von seinen Vorgesetzten gefoltert, kann entkommen und kehrt nach Amargura zurück.
Marinera ist die Geschichte des Dorfes Amargura, das von einer Flut ins Meer gespült wird – und mit ihr die meisten seiner Einwohner. Es ist die Geschichte sozialer Ungleichheit in Peru, ihrer historischen Wurzeln, von Revolten und Erhebungen gegen die Großgrundbesitzer, von gescheiterter Guerilla, vom Terror gegen die indigene Bevölkerung.

titel E ang titel D
Titelblatt der ersten spanischen und das der deutschen Ausgabe

Marinera ist die Geschichte der Mythen und der Erinnerungen an Urzeiten. Die Geschichte des Sperbers und des weißen Adlers, des Wüstensandes, des legendären Sican-Königs Naymlab, die Geschichte der dem Blitz dargebrachten Menschenopfer, die Geschichte der Mochicas und der Chimús …

Der Roman macht uns mit dem Marinera des peruanischen Nordens bekannt, der vom Mann auf und mit dem Paso, einem Pferd peruanischer Rasse, getanzt wird. Ein Tanz, bei dem Pferd, Reiter und Tänzerin in Schritt, Rhythmus und Musik eins werden, bei dem die Seele des Reiters auf das Pferd übergeht. Die
Tänzerin bewegt die Hüften, so wie die Wälder sich mit dem Wind bewegen. Sie stampft mit den Zehen und der Ferse auf, als würde sie auf den Wellen des Meeres gehen. In ihrem Tanz gehen Bitterkeit und Freude Hand in Hand. Mit ihren Bewegungen und ihrer Koketterie beschwört sie das peruanische Volk,
die weißen Menschen, die Schwarzen, die Indigenen: „Das ist es, was den Marinera-Tanz ausmacht: der Wettstreit all unseres Blutes in einem freudigen Rhythmus.“

Der Buch ist eine Herausforderung. Ein in unzählige Scherben zerbrochener Spiegel. Melacio Castro Mendoza erzählt nicht linear. Er lässt seine Personen selbst zu Wort kommen. In 57 Gesprächen, eher noch Ansprachen, in wörtlicher Rede, oft ineinander verschachtelt, berichten sie über ihr Leben, ihre Liebe, über ihre Arbeit, ihre Begegnungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Die meisten dieser Reden sind an José Gabriel Martínez gerichtet, eine Art auktorialer Erzähler, über den wir nur wenig erfahren. Ein Journalist, der die Ermordung einer terruca, einer vermeintlichen „Terroristin“ recherchiert.

Diese Erzähltechnik, die direkte Rede einander ablösender Protagonist*innen, ermöglicht Verwerfungen in der Zeit und im Raum: Amargura, Hamburg, Lima, Trujillo, der Panamakanal … Das Buch ist eine Herausforderung. Doch wenn wir sie annehmen, ermöglicht uns Melacio Castro Mendoza, die Scherben des Spiegels wieder zusammenzusetzen. Nicht alle. Und die Sprünge bleiben sichtbar.

Der Roman hat einige Schwächen. Da fällt der Versuch, die historische, wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung Deutschlands zu analysieren, allzu grob und oberflächlich aus. Obwohl sich zugleich Stellen finden, die deutsche Leser nachdenklich machen sollten, wenn wir aus peruanischer Sicht als „ein Volk der schnellen Schritte, des schnellen Essens und der schnellen Liebe“ bezeichnet werden. Oder wenn einer von Lorenzos peruanischen Hamburger Bekannten sagt: „Deutschland ist ein ganz beschissenes Land. Sein materieller Wohlstand beruht auf blinder Hingabe an die Arbeit, auf Konkurrenz und gegenseitiger Ignoranz gegenüber den Nachbarn, auf Gleichgültigkeit und sogar auf Hass gegenüber Kindern, und das mit einer Ernsthaftigkeit, die auf der Straße alle als die langweiligsten Menschen der Welt zeigt …“

Auch misslingt aus meiner Sicht der Schluss des Romans. Er ist zu süß, zu glatt: Einen letzten Marinera tanzen Honorato auf Cenizo und seine Partnerin auf einem Festival in Trujillo, auf der Gitarre begleitet von Manuelcha Prado …

Dennoch: Lesen Sie „Marinera. Ein letzter Tanz“.

Der Marinera

marineraDer Marinera ist ein Tanz im Dreivierteltakt. Das Werben eines Mannes um eine Frau. Die Tänzer werden von Cajón, Schlagzeug, Gitarre oder Blasinstrumenten begleitet. Typische Kleidungsstücke sind ein breitrandiger Hut beim Tänzer, ein weiter Rock bei der Tänzerin. Im Rhythmus des Tanzes schwenken Tänzerin und Tänzer weiße Taschentücher. Den marinera norteña tanzen die Frauen barfuß. Die besten Tänzerinnen können, so wird behauptet, barfuß über Glas laufen.

In Trujillo findet jährlich – im Januar – das Marinera-Festival statt. Mit einem nationalen Wettbewerb, zu dem Paare aus verschiedenen Landesteilen anreisen. Ebenfalls im Wettbewerb wird über den besten berittenen Marinera-Tänzer entschieden.

Melacio Castro Mendoza

melacioMelacio Castro Mendoza, geboren 1947 in Caín, einem Dorf an der Nordküste Perus. Soziologe, Historiker und Schriftsteller. Melacio Castro Mendoza studierte Sozialwissenschaften und Geschichte. Er lebt in Essen. „Marinera. Ein letzter Tanz“ ist nach „Der Mann aus Rupak Tanta“ seit zweiter Roman.

Melacio Castro Mendoza: Marinera. Ein letzter Tanz.
Aus dem Spanischen von Mathias Sasse. Berlin 2022.
Neopubli GmbH. 352 Seiten

 

Über den Autor

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann

Ernst R. Hartmann, geboren 1950 am linken Niederrhein. Versteht „links“ nicht nur geographisch. Nach Abitur, kaufmännischer Lehre und Ersatzdienst in einem Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt Studium der Mathematik und der Wirtschaftswissenschaften in Aachen und Freiburg i. Br. Arbeitete lange Jahre als Consultant in Einrichtungen des Gesundheitswesens und als Dozent vorwiegend in der Weiterbildung von Pflegekräften.

Bitte Kommentar schreiben

Sie kommentieren als Gast.